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Samstag, 7. Mai 2016

Fingerspitzengefühl





Fingerspitzengefühl


Etwas gelangweilt schlendere ich hinter der älteren Person her, die ich zum Einkaufen in den Supermarkt gefahren habe.
Da treffe ich unerwartet auf eine Frau aus Eritrea.
Wir kennen uns recht gut und die Begrüssung ist herzlich. Sie spricht ganz ordentlich Deutsch und so wechseln wir kurz ein paar Worte. Meine Begleitung ist währenddessen verschwunden.

Abra ist Mitte Fünfzig und vor vier Jahren in der Schweiz geflüchtet. Die nette Familie hat sich inzwischen hier gut eingelebt. Vor kurzem konnten sie auch vom zügigen Wohncontainer in eine helle, kleine Wohnung umziehen und Meng, ihr Mann, hat endlich eine Arbeit gefunden. Der gelernte Autospengler kann nun wenigstens an drei Tagen pro Woche bei einer Recyclingfirma arbeiten. Damit hat sich auch seine Psyche wieder stark verbessert.
Die älterste Tochter ist seit einigen Monaten mit einem Schweizer verheiratet, der ältere Sohn hat glücklicherweise eine Lehrstelle gefunden und die beiden Jüngsten gehen hier zur Schule. Die Kinder sprechen Schweizerdeutsch, sind in verschiedenen Vereinen und gut integriert.
Abra und ihr Mann haben mit dem Kontakt zu Einheimischen etwas mehr Mühe. In ihrem Alter ist das nicht mehr so einfach. Doch sie besuchen wöchentlich unser Integrationskaffee um mehr Einheimische kennen zu lernen. Denn auch sie freut es besonders, wenn sie auf der Strasse oder im Laden erkannt und wahrgenommen werden – dann fühlen sie sich hier ein bisschen mehr Zuhause.
Meng kommt auch jeden Donnerstag zu mir, um seine Deutschkenntnisse zu verbessern. Daraus ist inzwischen ein freundschaftlicher Kontakt entstanden und wir wurden von ihnen auch schon zum eritreischen Mittagessen oder zur traditionellen Kaffeezeremonie nach Hause eingeladen.

Einige Minuten später verabschiede ich mich wieder von Abra und sehe mich nach meiner Begleitung um. Ich treffe die bald Achtzigjährige hinter dem nächsten Gestell, wo sie ungeduldig wartet.
„Ich warte schon lange!”, zischt sie und funkelt mich ein bisschen böse an. Währenddessen schiebt sie ihren Einkaufswagen bereits eilig zur Kasse.
„Ach, da bist du … Warum bist du vorhin so plötzlich verschwunden? Wolltest du mit der dunkelhäutigen Frau nicht gesehen werden?”, frage ich scherzhaft, denn ich kenne ihre Einstellung zu 'den Asylanten'.

Nach einer Pause und einem unverständlichen Gemurmel fragt meine Begleitung unwirsch: „Was war denn die für eine?”
Ich muss lächeln: „Das ist die Frau des Eritreers, dem ich seit über einem Jahr jede Woche Deutsch gebe. Ich habe dir doch schon oft von ihm erzählt.”
Inzwischen sind die wenigen Einkäufe auf dem Kassenband gelandet und meine Begleiterin hat schon ungeduldig ihren Geldbeutel in der Hand.
Ohne sich umzublicken sagt sie:
„Ach, die war das – hätte ich das gewusst, hätte ich ihr zwanzig Franken gespendet …





:(