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Mittwoch, 27. Mai 2015

Einsamkeit





Einsamkeit

 

Verwundert bleibt Flandrina stehen und schaut sich um.
Ihr Atem geht rasch, das letzte Wegstück ging steil bergan.
„Bin ich jetzt wirklich so weit gelaufen?“ fragt sie sich.
Doch da sie nun hier oben steht, muss sie weit über eine Stunde gegangen sein.
Eigentlich wollte sie ja einfach nur ein wenig der allmählich untergehenden Frühlingssonne entgegengehen. Denn nach dem hartnäckigen Hochnebel der letzten Tage, war ihr Sonnenlicht jetzt wichtig.
Tranceartig ist sie bis hierher gekommen. Auf dem ganzen Weg war sie in sich gekehrt, in trübe Gedanken versunken gewesen. Doch wie immer hatte es keine Klärung gegeben. Da konnte sie grübeln so lange sie wollte.

Flandrina setzt sich auf die lange Bank am Wegrand, genau in die Mitte unter das Kreuz mit der geschundenen Holzfigur. Einatmen, ausatmen, ruhig werden und sich entspannen. Sie lehnt sich etwas zurück, berührt das Holz mit ihrem Rücken. Einatmen, ausatmen. Sich fallen lassen. Die Atmung wird schnell regelmässiger, das Pochen im Hals ruhiger.

Die Frau in den Fünfzigern sitzt gerne hier. Da ist der Blick weit – über die braungrünen Matten mit den vereinzelten Schneeresten bis hin zu den majestätischen Berggipfeln in der Ferne. Noch sind sie schneebedeckt und zeichnen sich darum in der untergehenden Sonne umso kontrastreicher vom tiefblauen Himmel ab. Das grelle Weiss untermalt ihre Erhabenheit.
Flandrina schliesst die Augen und nimmt die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht bewusst war. Ein Gefühl von wohliger Wärme und angenehmer Schwere macht sich breit.
„Alles halb so schlimm“, denkt sie.

„Sollte ich hier beten?“
Flandrina atmet tief ein, setzt sich aufrecht hin und verwirft den Gedanken sofort wieder. Nein, sie kann sich nicht vorstellen, hier mit gefalteten Händen zu sitzen und mit einem Gott zu sprechen an den sie gar nicht mehr recht glaubt. Schnell öffnet Flandrina die Augen wieder und sucht die Berge.
„Die haben Bestand, sind Wirklichkeit und Realität!“
„Sie sind etwas, woran man sich halten könnte“, denkt Flandrina.
Wie ein 'Fels in der Brandung'  – unerschütterlich gegen die Wogen des Lebens, gegen das Auf und Ab, das Hin und Zurück.

Unweigerlich kommt Flandrina der Begriff vom 'unerschütterlichen Glauben' in den Sinn. Warum verbindet sie diese beiden Worte immer wieder mit den Bergen? Vielleicht durch den Spruch: 'Der Glaube versetzt Berge' – aber welcher Glaube?
Der kindliche Glaube an den allmächtigen Mann mit dem weissen Bart im Himmel?
Flandrina schaut nach oben und muss lächeln. Früher hatte sie sich immer vorgestellt, wie dieser gütige Mann mit dem rosa, faltigen Gesicht die Wolkenballen auseinander schiebt und wohlwollend zu ihr hinab lächelt. Das hatte lange Zeit etwas Tröstliches für sie, doch heute?
So einfach ist das alles nicht mehr. Sie hat zu viel erlebt und erfahren. Sie weiss inzwischen einfach zu viel, auch vom Leben. Zu viele Prognosen wurden gestellt und mindestens so viele Rezepte lagen bereit und doch hat sie noch keines gefunden, das ihr geschmeckt oder geholfen hätte. Alles ist jetzt fast nur noch kompliziert. Oft wünscht sich Flandrina darum diese kindliche Einfachheit zurück.
Man müsste wieder unbeschwert und ohne Gedanken durch das Leben gehen können, denkt sie sich manchmal – das wäre das richtige Rezept! Aber Gedankenlosigkeit ist das Vorrecht kleiner Kinder.

„Dann müsste man eben einfach 'das Richtige' denken,“ massregelt sich Flandrina halblaut selbst. Es erscheint ihr einfach logisch, dass sich die Zukunft eigentlich nur nach dem Verhalten der Gedanken richten kann. Trotzdem fällt es ihr schwer, immer 'das Richtige' zu denken. Immer wieder verfällt sie der Spirale der negativen Gedanken und Gefühle. Das hat ihr gerade die letzte Stunde wieder deutlich gezeigt.
Zuerst kam die Wut und die Enttäuschung, dann das Hadern mit dem vermeintlichen Schicksal, danach das Gefühl der Hilflosigkeit. Sie kam sich wieder verkehrt und minderwertig vor.
Darauf kamen die Vorwürfe gegen sich selbst: „Es ist deine Schuld, 'du' musst dich ändern, 'du' machst es falsch!
Doch eigentlich weiss sie schon gar nicht mehr, was Richtig oder Falsch ist.
Dann folgt jeweils die matte Hoffnungslosigkeit, danach die Trauer und dann die innere Einsamkeit. Dieses Gefühl von allen verlassen zu sein - der letzte Akt im Flandrin’schen Drama - sie kennt das Szenario zur Genüge. 
Würde da der Glaube helfen? Wenigstens wäre dann bestimmt immer einer da …

Flandrina sinkt wider zurück. Sie wünscht sich, ihre Gedanken besser kontrollieren zu können. Sie möchte sich doch am Positiven freuen, statt dem Negativen soviel Raum zu geben. Aber das braucht so viel Kraft, das schafft sie einfach nicht immer. Sie müsste sich doch bloss mit dem zufrieden geben, das sie hat und nicht dem nacheifern, das so schwer zu erreichen ist. Doch dazu müsste sie einen grossen Teil ihrer Wünsche und Bedürfnisse, Hoffnungen und Träume hintanstellen. Den Kampf aufgeben – sich selber ein Stück aufgeben – den Willen zügeln und sich dem Schicksal einfach fügen.
Flandrina bewundert Menschen, die das können.

Genauso wie diese unverbesserlichen Optimisten, die nichts erschüttern kann. Menschen, die überall das Gute sehen, bei denen das Glas immer halb voll und nie halb leer ist. Starke Menschen, keine Schwächlinge.
Oder sind es die, die einen starken Glauben haben. Den unerschütterlichen Glauben an das Gute, das Richtige, das Hilfreiche und das Beschützende. Menschen die diesen Glauben auch immer wieder bei einem Gott oder an einem besonderen Ort finden und ihn dort bestärken können.

Vielleicht faszinieren sie darum Plätze wie diesen hier immer wieder.
Wie viele Menschen haben hier schon gesessen und gebetet, vielleicht auch geklagt, gefleht oder geweint?
Haben sie hier Kraft und Trost gefunden oder hier gar Linderung des Schmerzes in ihrer Seele erfahren?
Können solch magische Orte Knoten lösen und den rechten Weg weisen? Aber wo sind diese Menschen. Flandrina hat hier noch kaum Menschen gesehen, obschon sie schon oft hier gesessen ist.
Genau wie heute, Flandrina sitzt wieder alleine da – wieder kein Mensch weit und breit.
In ihrer der Brust zieht sich erneut etwas zusammen.
Einsamkeit schmerzt!





Die lange, leicht gerundete Sitzbank, auf der bestimmt über zwanzig Personen Platz finden, lässt darauf schliessen, dass hier auch Messen abgehalten werden. Gemeinschaft! Dieses Wort schiesst jetzt Flandrina durch den Kopf. Wäre das, das Gegenteil von ihrer Einsamkeit? „Vielleicht“, denkt sie, „aber nicht um jeden Preis …“
Zudem hat sie genug Leute um sich, die ganze Zeit. Es fehlt ihr nicht die Unterhaltung, ihr fehlt die Tiefe.

Möglicherweise hätte sie halt damals doch den Rat befolgen sollen und sich auf den Jakobsweg begeben.
Es sei eine gute Möglichkeit sich selbst zu finden; auch um sich klar zu werden wohin der Lebensweg führen soll, hat man ihr erklärt. Es müsse ja gute Gründe geben, weshalb sich Millionen von Menschen seit Jahrhunderten auf diese uralten Wege begeben würden. Pilgerwege seien zudem eine gute Möglichkeit, gleichgesinnte Suchende zu treffen, sich mit denen auszutauschen und dabei auch ernst genommen zu werden.

„Nicht so wie hier“, denkt sich Flandrina, „wo sie alle immer so selbstsicher und selbstbewusst sind und sofort einen 'guten Rat' bereit halten: ‚Du musst dich einfach zusammenreissen!’ Du musst einfach positiv denken und optimistisch sein’.“
Diese Ratschläge kennt Flandrina zur Genüge und immer wieder kommen sie ihr vor, als ob man einem Lahmen den Rat geben würde: ”Steh auf und gehe!”

Flandrina gibt sich einen Ruck! „Aber ich bin nicht lahm“, denkt sie trotzig. „Ich kann gehen – und irgendwann sitzt hier jemand, ganz bestimmt!“
Flandrina fröstelt leicht. Die Sonne hat sich von der Bank zurückgezogen und langsam wird es kalt.
Ihr beengtes Herz hat sich nun plötzlich geöffnet und einer gewissen Zuversicht Platz gemacht.
Noch einmal lässt sie ihren Blick über auf die majestätischen Berge schweifen, dann steht sie auf und marschiert entschlossen vorwärts. Da vorne gibt es noch etwas Sonne und wenn sie sich beeilt, dann umgibt sie bald wieder die Wärme des kommenden Frühlings.
© Copyright by Herr Oter




Über „Das Gegenteil von Einsamkeit” habe ich hier geschrieben
Weitere Geschichten zum Thema Einsamkeit:
- Theo

:(

Freitag, 1. Mai 2015

Drei Brüder und drei Schwestern






Drei Brüder und drei Schwestern


Wann und wie sie kamen, das weiss ich gar nicht mehr, weil ich damals noch ziemlich klein war. In meiner Kindheitserinnerung sind sie einfach plötzlich da.
Woher sie kamen, das hat man mir dann später erzählt; aus einem hoch gelegen, bekannten Bündner Winterkurort muss es gewesen sein. Ich nenne ihn hier einfach mal „Büren“ und die drei zugezogenen Schwestern dementsprechend unverbindlich „DieVonBüren“.

„DieVonBüren“ waren drei verhuschte Jungfern, ledig gebliebene Schwestern, die in meinen Erinnerungen schon immer alte Frauen waren, von Anfang an. Aber trotz eintretendem Lebensherbst wurden sie von allen „Fräulein” genannt. Natürlich auch von uns drei Brüdern, denn darauf legten die drei Schwestern Wert, bis zum Schluss. Zwar soll eine von ihnen mal verheiratet gewesen sein - diese schien uns auch die Umgänglichste - doch Genaueres wussten man nicht, zumindest wir nicht.

Diese drei alten Jungfern hatten nun also den anderen Hausteil unseres Doppel-Einfamilienhauses dem Briefträger abgekauft. Über ihn habe ich hier bereits geschrieben.  Somit waren sie jetzt unsere nächsten Nachbarn – drei alte Schwestern neben uns drei, heranwachsenden Brüdern – Seite an Seite unter einem Dach, nur getrennt durch eine gemeinsame Hauswand und einem niederen Gartenzaun.
Ob das gut gehen konnte? – Es konnte natürlich nicht!

Anfangs verlief alles noch harmonisch. Man grüsste sich gegenseitig freundlich über den hölzernen Kreuzzaun. Wir sagten zu ihnen „Fräulein“ und sie nannten uns bei unseren Vornamen. Flog mal ein Ball über den Zaun, lag er später wieder in unserem Garten. Manchmal reichten uns „dieVonBüren“ auch mal eine Tafel Schokolade hinüber. Es war vermutlich ein jahrealter Restbestand des kleinen Gemischtwarenladens in Büren, den sie von ihren Eltern übernommen und vor ihrem Zuzug zusammen jahrelang betrieben haben sollen.
Denn innen waren diese Schokoladentafeln immer bereits weisslich angelaufen. Ein Zeichen der unsachgemässen Lagerung oder des Alters? Denn eine Datierung gab es damals noch nicht. Essen durften wir die Schokolade nie, Mami misstraute der Verträglichkeit. Aber bedanken mussten wir uns dafür immer, Mami wollte das so. Manchmal gab es von den „Fräuleins“ auch Beeren, direkt von einem Strauch aus ihrem Garten, zumindest eine knappe Handvoll für uns drei.  Diese Früchte durften wir immer essen, nur gründlich gewaschen mussten sie vorher werden. Im Gegensatz zu unseren, die meistens direkt in den Mund wanderten.
Vielleicht gab es von den Nachbarinnen auch mal eine kleine Birne vom einzigen Baum, der mitten auf der Wiese zwischen unserem Grundstück und unserem Schulweg, dem Bahndamm entlang, lag. Dieses Grundstück, durch unseres von ihrem getrennt, hatten die drei extra noch dazugekauft. War es einfach Bauland, als weitsichtige, gewinnbringende Landreserve? Oder spekulierte die eine oder andere der ledigen Jungfern vielleicht doch noch auf einen eigenen Hausstand mit Partner? Gebraucht haben sie die Wiese jedenfalls nichtw. Sie wurde von einem Bauern zweimal im Jahr gemäht. Betreten durften wir sie nie, auch wenn sie sich nach dem letzten Abmähen hervorragend für Ballspiele der Quartierjugend geeignet hätte.



© Copyright Bild-Autor: Antiker / Lizenz: CC BY-SA 3.0 / aus Wikimedia Commons  



 

Überhaupt wurden die drei Jungfern im Quartier zunehmend als kauzige, unumgängliche Weiber wahrgenommen, die nur mit wenigen Kontakt hatten. Für uns Kinder aber, wurden die „Fräuleins“ mit der Zeit zu bösen Hexen. Wir waren uns einig, dass sie Kinder hassen mussten. Genau so, wie wir es aus den Märchen kannten. Eine Zeitlang hatten wir sogar richtig Angst vor ihnen.

Auch ihre Kleider sahen wie in den Grimm'schen Märchen aus. Immer dunkel und immer etwas schäbig. Dunkelblaue, bodenlange Kittelkleider – hochgeschlossen und mit Ärmeln. Darüber meistens noch ein feines, graues Jäckchen. Auch bei der grössten Hitze. Dazu eine gemusterte Schürze und ein dunkles Kopftuch. Jedoch im Gegensatz zu den Märchen, im Nacken, statt vorne zusammengebunden. Darunter leicht ergraute, schwarze Haare, zu einem Huppi (Dutt, Knopf) hinter dem Kopf zusammengebunden. Ihr langen Harre sah man jedoch selten und nie offen getragen. Ich glaube, die drei hatten all die Jahre auch immer dasselbe an. Ausser sonntags, da trugen sie stets eine braunrote Tracht mit weisser Bluse, wenn sie zur Kirche gingen. Alle drei, hurtig hintereinander her laufend.

Wir Kinder konnten uns gar nicht vorstellen, dass diese drei „Fräuleins” jemals fröhlich sein oder freundlich lächeln konnten. Missmutig, grimmig und etwas unheimlich, so habe ich die drei in Erinnerung. Und ständig huschten sie irgendwo im Garten herum. Meistens alle drei – eine hinter der anderen her trippelnd. In ihren bodenlangen Kleidern folgten sie einander mit schnellen, kurzen Schrittchen, husch, husch, wie graue Mäuse.
Schaute eine in ein Gartenbeet – kam sicher bald die Nächste angewuselt und schaute ebenfalls hinein. Dabei bewegten sich ihre Kopftücher Eulen gleich, ruckartig hin und her und murmelten dazu Unverständliches. Manchmal hörte man sie auch nur unsichtbar zwischen den Büschen brummeln. Richtig gespenstisch war das dann für uns. Doch in Wirklichkeit waren sie wohl einfach kleiner als die Büsche und sprachen leiser miteinander, als wir es uns gewohnt waren.

Arm waren „DieVonBüren“ wahrscheinlich nicht – aber sparsam. Man munkelte, dass sie sogar die getrockneten Kuhfladen gezügelt hätten, die sie an ihrem alten Ort nicht mehr zu verfeuern vermochten. Ob das wirklich stimmte, kann ich nicht sagen.
Doch beim Badewasser traf es ganz sicher und offensichtlich zu, das beobachteten wir ganz genau:
Gebadet haben „DieVonBüren“ auch einmal wöchentlich, wie wir. Das war damals so üblich. Und genau wie wir drei Brüder, badeten auch die drei Schwestern im Nachbarhaus immer am späteren Samstagnachmittag. Wir fanden auch heraus, dass die Frauen ebenfalls, wie wir Kinder auch, alle drei  im selben Badewasser badeten – wenn auch vermutlich nicht alle drei zusammen, wie wir es taten, als wir noch klein waren. Das entnahmen wir der Tatsache, dass sie danach immer nur einmal, das Badewasser „kübelchenweise“ hinausgetragen haben, um damit auch noch das Gemüse und die Blumen im Garten zu wässern. Im Gegensatz zu uns, da wurde am Ende einfach der Stöpsel gezogen.

Gewaschen wurde bei den „Fräuleins“ nur etwa einmal im Monat, damals noch im mit Holz befeuerten Waschhafen. Trotzdem hing bei ihnen nach einem Monat nicht mehr Wäsche zum Trocknen hinter dem Haus, als bei uns jede Woche. Vielleicht etwas mehr als ein Dutzend Kleidungsstücke,  ein bisschen Haushaltswäsche und sonst noch das eine oder andere. Doch an Unterwäsche an ihrer „Wöschhänki“, kann ich mich nicht erinnern. Die hätte uns Buben schon noch interessiert. Aber diese kindliche Neugier wurde von den drei Schwestern nicht befriedigt.
Dafür erinnere ich mich noch gut an ihre Bettwäsche. Denn die weissen Barchent-Ober- und Unterleintücher wurden jeweils im Frühling und im Herbst von ihnen sorgfältig zum Bleichen in der Sonne ausgelegt, ein herrlicher Kontrast auf der sattgrünen Wiese.

So wussten wir vieles von ihnen, weil wir sie genau beobachtet haben. Doch ich bin überzeugt, dass sie es mit uns genau so machten. Wir waren sicher ein Teil ihres Lebensinhaltes, sorgten vermutlich für viel Gesprächsstoff und leider zunehmend auch für Ärger.



 © Bild von: Utoplec  / Lizenz: CC0 / by: pixabay


Wann der nachbarschaftliche Frieden kippte, kann ich im Nachhinein nicht mehr nachvollziehen. Ich glaube, dass es keinen triftigen Anlass dafür gab. Es hat sich einfach mit der Zeit hochgeschaukelt. Irgendwann kamen die Bälle immer später zurück. Mit der Zeit holten wir sie dann selber durch das Gartentor. Als es verschlossen wurde, kletterten wir über den Zaun. Das bescherte uns dann ein heftiges Geklopfe am Fenster. Später kamen dann  noch Schimpfwörter dazu. Deswegen holten wir uns die Spielbälle einfach nach dem Eindunkeln. Daraufhin verschwanden sie bereits vor dem Eindunkeln aus ihrem Garten und blieben dafür tagelang verschwunden. Mit der Zeit, sahen wir unsere verschossenen Bälle oder anderen Spielsachen dann zusätzlich tagelang ausgestellt hinter dem Fliegengitter auf ihrer Fensterbank im zweiten Stock. Ich erinnere mich noch gut, dass mein blauer Hula-Hoop-Reifen mindestens drei Wochen lang an einem ihrer Fensterladen angehängt war. Das war schon sehr bitter, den beliebten Ring tagtäglich unerreichbar ansehen zu müssen. Irgendwann hatte Vater dann genug und er hat dem üblen Spiel der „Hexen“ mit einem energischen Besuch bei den „Fräuleins“ ein Ende gesetzt.

Aber von da an, war es mit dem Nachbarschaftsfrieden ganz vorbei. Wir drei Buben haben die drei Schwestern mit allen Mitteln geärgert und umgekehrt genau so. Die Frauen wurden zu alten Hexen, wir Kinder zu unerzogenen, rotzfrechen "Gofa" (bösen Kinder). Unsere kleinen Unarten wurden zu untolerierbaren Ungezogenheiten, ihre fehlende Toleranz zu Kriegserklärungen. Ein Pingpong-Spiel der Feindseligkeiten. Kinderkram und doch nichts, worauf man heute noch stolz sein könnte.

Kürzten wir auf dem Schulweg die Ecke ihrer Baulandreserve ab, provozierte das wieder ein heftiges Geklopfe ans Küchen- oder Schlafzimmerfenster und machten wir noch eine „Zusatzschleife“ erzeugte es dazu noch wüstes Geschimpfe. Immer wieder probierten wir es aus und jedes Mal funktionierte es. Denn sie sahen uns immer! Die müssen den ganzen Tag hinter dem Vorhang gesessen haben, oder zumindest eine der dreien. Vielleicht nach einem festen „Sitzplan”… Ich muss bei dem Gedanken heute noch Schmunzeln, obschon es für die drei Schwestern sicher nicht lustig war, uns auszuhalten. Dieser unschönen Sache wurde dann mit einigen dicken Holzposten und einem dazwischen gespannten Draht ein Ende gemacht. Scheinbar! Denn wie es Kinder so haben, schlenderten wir auf dem Heimweg dem Zaun entlang und liessen den Draht durch die geballte Faust schleifen. Das hatte die gleiche Wirkung, wie vorher, als wir den Weg abkürzten – die Fensterscheiben mussten wieder daran glauben.

Ich muss gestehen, wir drei Brüder haben die drei Schwestern im Nachbarhaus mit gemeinsamem Dach, zunehmend absichtlich geärgert. Waren unsere Eltern abends mal abwesend, was nicht oft vorkam, so haben wir das natürlich ausgenutzt und spät am Abend ziemlich viel Lärm in unserem Haus gemacht, Türen geschlagen und die Rolling Stones aufgedreht, was das Radio hergab. Klar wussten wir längst, dass die drei Frauen mit den Hühnern zu Bett gingen und die Fensterläden zuzogen, wenn wir im Sommer abends draussen noch gespielt haben. Aber was kümmerte das uns? So dauerte es jeweils nicht lange, bis es an der gemeinsamen Wand energisch klopfte – wir haben dann nicht weniger heftig zurück geklopft.
Die Reklamationen, am nächsten Morgen bei unserer Mutter, blieb natürlich nicht aus. Anfänglich wurden wir von ihr ermahnt, mit der Zeit hingegen, hat uns Mami nur noch gebeten, es nicht zu übertreiben.

Dramatisch wurde die Lage, als wir von den herrlichen Schwarzen Johannisbeeren der Nachbarinnen naschten. Die Büsche wuchsen zwar in ihrem Garten, aber die Zweige streckten sich, dick behangen mit den feinen süssen Früchten, durch den Zaun weit in unseren. Dem Vater waren diese Zweige sowieso ein Dorn im Auge und so erlaubte er uns, von den Beeren zu naschen. „Schliesslich hängen sie auf unserem Grund und Boden“, meinte er lakonisch dazu. Unser Vater war in solchen Sachen immer ganz genau und konsequent. Zwar hatten wir Johannisbeeren auch in unserem Garten, aber vor allem die Roten und die aus dem Nachbargarten waren doch einfach viel süsser…
Nachdem wir das erste Mal davon genascht hatten, waren die Zweige auf unserer Seite am nächsten Tag mit einer seltsamen, weissgrauen Schicht dick „überzuckert”. Das kam uns schon etwas komisch vor und Mami wurde zu Rate gezogen. Zum Glück, denn unsere lieben Nachbarinnen hatten die Zweige dick mit Pirox, einem hochgiftigen Pflanzenschutzmittel gegen Schädlinge, eingestäubt. Mutters Rebschere machte der hochgiftigen Abwehrmassnahme gegen den vermeintlichen Mundraub der Nachbarskinder ein radikales Ende. Die Büsche waren damit zugleich auch wieder auf die nachbarliche Grenze zurückgeschnitten.

Mit der Zeit liess unser Interesse an den drei alten Frauen aber immer mehr nach. Jüngere weibliche Geschöpfe wurden interessanter. Später wurde auch das Verhältnis unserer Mutter mit den Frauen eher besser, aber gepflegte Nachbarschaft wurde nie daraus. 




Hula-Hoop-Reifen
 © Copyright Bild-Autor: Ljame015 / Lizenz: CC BY-SA 3.0 / aus Wikimedia Commons  



;)