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Montag, 19. Dezember 2011





Fritz


Meinen Vater verlor ich mit Vier“, sagt er, während wir nebeneinander sitzen und warten.
Der ältere Herr ist mir auf Anhieb sympathisch. Er hat ein überaus freundliches Gesicht, wache, strahlende Augen, gepflegte Haare und ist adrett in Hellgrau gekleidet. Er heisse Fritz und sei bald achtzig, wird er mir beim Abschied sagen.

Wir warten erst seit Kurzem und werden auch nicht lange bleiben, somit wird leider vieles, das mich interessieren würde, unausgesprochen sein. Mir scheint jedoch, dass er mir gerne mehr erzählen würde, denn ich brauche ihn, während er erzählt, kaum etwas zu fragen.

Fünf Jahre lang hatte unsere Mutter nach Vaters Unfall alles versucht, die vier Kinder alleine zu versorgen und grosszuziehen. Aber sie hatte die Behörden gegen sich und halt nur wenig Unterstützung von Verwandten und Nachbarn. Die Zeiten waren schlecht und jeder musste für „sich schauen“.
Die Familie wurde dann auseinandergerissen und jeder kam an einen anderen Platz. Ich wurde zu meinen Pflegeeltern auf einen Bauernhof gebracht, weit ab der Übrigen.

Zu essen gab es wenig und immer in der Küche, denn die heimelige Stube war der Familie vorbehalten. Für einen wie mich taten es auch die abgetragenen Kleider der eigenen Kinder und etwas zum Spielen brauchte ich auch nicht, denn immer wieder musste ich hören, dass sie mich nicht aus Nächstenliebe, sondern einen „Verdingbub“ zum Arbeiten genommen hätten.
So kam auch die Schule immer erst an zweiter Stelle, wenn die Zeit neben der Arbeit halt noch reichte.
Jeden Morgen um fünf Uhr musste ich in den Stall und kam deswegen auch oft zu spät zur Schule, was jedes Mal eine Strafe nach sich zog. „Tatzen“ zum Beispiel, mit dem Bambusstab des Lehrers einige Male auf die Finger gehauen oder vor der ganzen Klasse eine halbe Stunde auf einem kantigen Holzscheit knien, das war besonders schlimm.
Nach dem Unterricht blieb wegen der Arbeit nur wenig Zeit für die Hausaufgaben, denn um acht oder neun Uhr wollte einfach kaum noch etwas in meinen müden Kopf. Aber zum Glück lernte ich sehr „ring“.
Ich war kein schlechter Schüler und wurde aus diesem Grund vom Lehrer zur Sekundarschulprüfung angemeldet. Doch am Morgen des Prüfungstages packte mich mein Pflegevater, schmiss den abgewetzten Schulsack in eine Ecke und meinte, dass sie nicht noch jahrelang für einen „Gstudierten“ zahlen wollten. Ich musste mit ihm bis am späten Abend in den Wald. Am anderen Tag sperrte mich der Lehrer den ganzen Vormittag in den dunklen Kohlenkeller, weil ich nicht zur Prüfung erschienen war. Dafür musste ich am Nachmittag zwei Stunden länger bleiben um nachzuholen, was ich am Morgen versäumt hatte. Als ich nach Hause kam, gab's dann gleich Schläge mit dem Hosengurt, weil ich zu spät nach Hause kam.
Solche Beispiele könnte ich noch viele erzählen.
Besonders hart war es für mich jeweils an Weihnachten, wenn alle anderen in der warmen Stube vor dem festlich geschmückten Baum feierten, heilige Lieder sangen, lachten und sich über die Geschenke freuten. Derweil musste ich in der Küche bleiben, hörte alles mit und auch das Weihnachtsessen wurde an mir vorbei ins Wohnzimmer getragen. Während die anderen danach in die Mitternachtsmesse gingen, war ich bereits im Bett und hatte mich in den Schlaf geweint.

Nach der Schulzeit konnte ich keine Lehre machen – ich sei zu dumm dafür und das koste ja auch noch, war die Begründung des Pflegevaters.
Doch mit zwanzig mussten sie mich gehen lassen. Ich fand einen guten Arbeitgeber, der mich gefördert hat. Ich war willig und fleissig und Arbeit gab es ja genug. Ich habe mich hochgearbeitet und es doch noch zu etwas gebracht. Auch eine liebe, tüchtige Frau habe ich gefunden und mir war es immer wichtig, ein guter und liebevoller Vater für meine Kinder zu sein. Ich wollte ihnen geben, was mir als Kind so sehr gefehlt hat.
Ja, das Leben hat mich mehr als nur entschädigt für die schwere Kindheit und selten belastet mich diese Vergangenheit. Auch wenn man hierzulande gerade jetzt sehr viel über dieses dunkle Thema spricht und man dadurch immer wieder daran erinnert wird. Aber es ist auch befriedigend, dass die Allgemeinheit endlich die misslichen Zustände von damals zur Kenntnis nimmt und diese üble Vergangenheit aufarbeitet.
Es scheint sogar, dass sich die Nichtbetroffenen mit diesen schlimmen Geschichten noch fast schwerer tun, denn die meisten haben, als Mitschüler oder Nachbarn, „einen von denen“ gekannt und waren dabei, wenn sie „gehänselt“, geplagt und ausgegrenzt wurden.

©/® Copyright by Herr Oter


Der Film zum Thema:  
« Der Verdingbub» von Markus Imboden
   Basierend auf 100'000 wahren Geschichten 




:-± 


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