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Montag, 14. November 2011

Agathe





Agathe

Ich vermisse ihn so sehr“, sagt Agathe zu mir.
„Weisst du, er war mir der Liebste. Er hat mir nur Freude gemacht. Er war halt speziell.
Er war sehr neugierig. Er wollte immer alles wissen, allem auf den Grund gehen, überall dahinter sehen.
Und er hat viel gelesen, von klein auf – er war der Einzige, der so viel gelesen hat. Auch diese Leidenschaft hat uns beide verbunden, mehr als mit den Anderen. Ja, das Lesen und dann das Sprechen darüber, das war interessant. Über Gott und die Welt. Mit ihm konnte man über alles sprechen. Er war sinnlich, spirituell und offen für alles. Auch in die Kirche kam er gerne mit – die Anderen weniger, ausser wenn sie mussten. Wie auch mein Mann, vor allem wegen seines Amtes musste er sich halt auch dort zeigen.“

Agathe nimmt ihre Geldbörse hervor, klappt sie auf und zeigt mir das kleine, schwarzweisse Porträt – die einzige Foto, dort, hinter einer Plastikfolie. Der Platz daneben ist leer und diese Leere ist auf beide Seiten des Bildes gleichmässig verteilt.
Die Abbildung zeigt einen sympathischen jungen Mann, schmales Gesicht, scheues Lächeln, aufmerksame Augen.
„Ich weiss wenig von ihm“, sage ich, „dich habe ich nie gefragt – ich spüre doch, wie sehr du darunter leidest.
Ich weiss auch nicht, ob du mir jetzt etwas erzählen möchtest – vielleicht wie es passiert ist?“
Sofort glitzern Tränen in ihren Augen.
„Es war ein Autounfall, am Dorfeingang, kurz bevor er zu Hause war. Aber er ist nicht selber gefahren, er sass auf dem Beifahrersitz.
Mit seinen beiden Kollegen besuchte er ein Konzert in der Stadt, sie fuhren mit dem Zug.
„Du musst nicht auf mich warten oder dich sorgen, Mutter“, sagte er, „wir kommen mit dem ersten Zug am Sonntagmorgen wieder zurück.“
Nachtbusse gab es damals noch keine.
Sie haben dann aber einen getroffen, dort in der Schür, der kommt von unserem Ort. Das ist ein Anständiger, der fährt normal, keine Drogen, kein Alkohol. Er war mit dem Auto unterwegs und hat die Drei mitgenommen. Die beiden anderen sassen hinten. Beim Dorfeingang ist der Fahrer eingenickt, Sekundenschlaf. Das Auto krachte rechts in einen grossen Stein. Mein Sohn war sofort tot, die anderen kaum verletzt“.
„Entschuldige bitte“, sagt Agathe und wischt sich rasch die Tränen von den Wangen. Mir erscheint sie noch schmaler und kleiner als sonst, hängende Schultern, fahles Gesicht - ein Häufchen Elend.
„Dass er nicht selber gefahren ist, macht es sicher auch nicht einfacher“, versuche ich hilflos abzulenken.
„Ich mache dem jungen Burschen keine Vorwürfe, er war immer ein Anständiger, hatte nichts getrunken oder genommen, das hat man untersucht. Er ist einfach kurz eingenickt, ohne, dass er es gemerkt hätte. Er leidet ja auch unter dem Unfall. Er hat mich auch oft besucht – vor allem am Anfang. Es war einfach Pech.“
Das Nastuch wischt wieder verschämt über ihre tränenden Augen.
„Vielleicht war der Lebensweg deines Sohnes einfach zu Ende“, versuche ich etwas zu trösten. „Seine Aufgabe hier, davon bin ich überzeugt, war erledigt. Wie alt war er, als es passierte?“
Keine neunzehn Jahre alt. Es ist kaum zu verstehen, warum so ein junger Mensch sterben muss – und dann gerade er. Er hatte doch so eine interessante Zukunft vor sich, er mit seiner Neugier und seiner Belesenheit. Er, der so lieb war! Nie hat er etwas Unrechtes getan.“
„Vielleicht deswegen, liebe Agathe, vielleicht gerade darum war er so ein Lieber, so ein Interessierter, so ein Intensiver. Er hatte nur wenig Zeit. Er gab dir seine Liebe konzentrierter, er holte sein Wissen schneller und lebte sein kurzes Leben intensiver als deine beiden anderen Kinder. Denn er hatte weniger Zeit zur Verfügung. Vielleicht hat er es – nicht gewusst– aber im Unterbewusstsein – man weiss ja nie....“
„Seine beiden Freunde, die beim Unfall dabei waren, kamen später einmal vorbei. Sie müssten mir etwas erzählen, meinten sie etwas zögerlich.
Kurz vor dem Unfall – einige Tage davor sei es gewesen – sie Drei seien, oberhalb des Friedhofes – also, diesen Weg dort hätten sie genommen und er habe gesagt – es töne jetzt verrückt – aber, er habe damals gesagt, dass er noch in diesem Jahr dort unten liegen werde – dort unten auf dem Friedhof.
Sie wären in guter Stimmung gewesen und darum hätten sie damals nur gelacht und ihn überhaupt nicht ernst genommen. Erst im Nachhinein – nach dem Unfall, sei ihnen das wieder bewusst geworden.“

Ein Moment der Stille stand zwischen uns.

„Zehn Jahre ist das jetzt her und – ich vermisse ihn noch immer, jeden Tag.

©/® Copyright by Herr Oter



:-/



3 Kommentare :

Yui hat gesagt…

Ich bin berührt, liebe grüße: ich.

Freundin hat gesagt…

Diese Geschichte macht mich nachdenklich.
Liebe Grüsse

Herr Oter hat gesagt…

Es freut mich, dass Euch diese Geschichte berührt, gerührt und zu einem Kommentar verführt hat.
Herzlichen Dank an Euch beide.